Literaturnobelpreis 1969: Samuel Beckett

Literaturnobelpreis 1969: Samuel Beckett
Literaturnobelpreis 1969: Samuel Beckett
 
Der Ire erhielt den Nobelpreis für eine Dichtung, die in neuen Formen des Romans und des Dramas die künstlerische Aufrichtung des Menschen aus seiner Verlassenheit erreicht.
 
 
Samuel Beckett, * Foxrock (Dublin) 13. 4. 1906, ✝ Paris 22. 12. 1989; 1934-35 wohnhaft in London, Gelegenheitsarbeiten für Verlage, ab 1937 Wohnsitz in Paris, 1953 Uraufführung von »Warten auf Godot«, 1969 Unterstützung von Freunden und Kollegen mit der Preissumme des Nobelpreises.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Der englisch und französisch schreibende irische Dichter Samuel Beckett zählt heute zu den meistgelesenen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Seine Theaterstücke wie auch die Prosa und die Gedichte gehören zugleich zu den am schwersten erschließbaren Texten der Moderne. Sie thematisieren in immer neuen Wendungen die Auffassung des Autors, moderne Literatur habe nicht mehr konkret fassbare Inhalte zu vermitteln, vielmehr müsse sie das Erzählen selbst zum Gegenstand ihrer Erzählungen erheben. Laut Beckett ist die Aufgabe der modernen Literatur, auszudrücken »dass es nichts gibt, das auszudrücken wäre, nichts, womit sich etwas ausdrücken ließe, nichts, von wo aus sich etwas ausdrücken ließe, dass aber zugleich die Verpflichtung zum Ausdruck besteht.« Becketts Schaffen lässt sich als literarische Konkretisierung dieses Widerspruchs, dem Erzählen des nicht mehr Erzählbaren, deuten.
 
 
Im Dubliner Küstenvorort Dun Laoghaire befindet sich an der Fähranlegestelle, unweit vom berühmten Martello-Turm, in dem der englisch-irische Schriftsteller James Joyce seinen Roman »Ulysses« beginnen lässt, eine kupferne Erinnerungstafel zu Ehren Samuel Becketts: »Nobelpreisträger für Literatur 1969«. Von dort aus hatte Beckett 1934 Irland verlassen, um in London und später in Paris zu leben. Und dorthin kehrte niemals mehr Murphy, der Held von Becketts gleichnamigem Roman von 1938, zurück.
 
Die Romanfigur, in die autobiografische Spuren mit einfließen, empfindet qualvoll den Zwiespalt von Körper und Intellekt, von physischer und psychischer Existenz. Landsleute, die ihn in England suchen, kommen zu spät. Murphy hat als Pfleger einer Irrenanstalt Selbstmord begangen. Die testamentarische Verfügung Murphys, seine Asche solle feierlich in einer Papiertüte nach Irland gebracht werden, erfüllt sich nicht. Stattdessen landen Murphys Überreste völlig unpathetisch durch eine Unachtsamkeit auf dem schmutzigen Boden einer Londoner Kneipe. Becketts früher tragikomischer Roman »Murphy« ironisiert durch die Parodisierung traditioneller Erzählklischees den weit verbreiteten Irlandkult vieler seiner ausgewanderten Landsleute.
 
 Molloy, Malone und Mahood
 
Erzählen zu müssen im Wissen, dass es eigentlich nichts Neues mehr zu erzählen gibt — dies ist das Thema von Becketts Trilogie, die er zwischen 1945 und 1950, von der Außenwelt abgeschlossen, in Paris verfasste, und die den Schwerpunkt seines literarischen Schaffens darstellt: »Molloy« (1951), »Malone stirbt« (1951) und »Der Namenlose« (1953). Hier wandte Beckett die Lehre des französischen Philosophen René Descartes vom Primat des Geistes, dem alles sinnlich Wahrnehmbare unterzuordnen sei, konsequent auf die erzählerische Darstellung an.
 
Molloy, Malone und der Namenlose mit seinem Doppelgänger Mahood sind Variationen einer beständigen Suche nach Identität, die sich darum bemüht, die richtigen Worte zu finden, um ein für allemal schweigen zu können. Molloy, eine konsequente Weiterentwicklung der Romanfigur Murphy, macht sich vergeblich auf die Suche nach seiner Mutter, in deren Bett er bewegungsunfähig liegt und dorthin auch am Ende zurückkehrt. Im Bett befindet sich ebenso Malone, die Titelfigur des zweiten Romans. Seine Zeit verbringt er damit, Geschichten zu erzählen, um dem Zustand des Schweigens näher zu kommen. Der Namenlose hockt mit seinem Doppelgänger Mahood inmitten eines unendlichen Raums und beschimpft seine Vorgänger Molloy und Malone, die sich auf einer Kreisbahn um ihn drehen. Der Namenlose ist die äußerste Reduktion des Menschlichen auf das reine Denken. Das letztliche Verstummen seines Erzählens bedeutet jedoch nicht das Ende jeder Erzählung: »... es wird ich sein, es wird das Schweigen sein, da wo ich bin, ich weiß nicht, ich werde es nie wissen, im Schweigen weiß man nicht, man muss weitermachen, ich werde weitermachen.« Die Unmöglichkeit und die Sehnsucht der Sprachwerdung des Schweigens — in dieser unaufhebbaren und widersprüchlichen Spannung bewegt sich Becketts Erzählung.
 
 Godot
 
Das in Paris am 5. Januar 1953 im Théâtre de Babylone uraufgeführte Schauspiel in zwei Akten »Warten auf Godot« wurde zu einem der größten Erfolge der Nachkriegszeit. Die Dialoge der vier Hauptpersonen, die sich im unbestimmten Raum einer Landstraße aufhalten, die aus dem Irgendwo kommt und ins Irgendwohin führt, besitzen keine andere inhaltliche Funktion als die, das Warten zu registrieren und es erträglich zu machen. Zweimal tritt ein namenloser Bote auf, der das Kommen seines Herrn, Godot, jeweils für den nächsten Tag ankündigt. Über Godot erfährt man nur, dass zwei der Hauptpersonen mit ihm verabredet sind. Über den Grund dieser Verabredung wird ebensowenig etwas ausgesagt wie über die Person Godots. Das einzig Unabwendbare ist das Warten. Es ist das Wissen, dass man wartet, das diesem Zustand in aller Unsicherheit einen Halt gibt.
 
 Pim
 
1961 erschien Becketts viel gelesener Roman »Wie es ist«. Auch hier steht ein Namenloser unter dem Zwang, die Auflösung seiner Identität in Worte zu fassen. Der Erzähler unterteilt seinen Bericht in drei Abschnitte: »vor Pim«, »mit Pim« und »nach Pim«. Pim ist ein kleiner alter Mann, der sich dem Erzähler zugesellt hat. Vor dem Auftauchen Pims war dieser von der Einmaligkeit seiner Einsamkeit überzeugt. Nun aber kann er sich jemandem mitteilen, indem er Pim mit einem Büchsenöffner sticht, um ihn zum Sprechen zu bringen, und ihm auf den Kopf schlägt, wenn er schweigen soll. Der so Geschundene verlässt schließlich den Erzähler, der schon bald von einem anderen ebenso gequält wird, wie zuvor Pim von ihm. Nun begreift der Namenlose, dass in dieser Welt jeder einmal Schinder, einmal Geschundener ist. Das Ende seines Monologs mündet in den Anfang zurück, dabei lässt er offen, ob das von ihm Berichtete nicht letztlich doch nur ein Spiel mit Worten gewesen sei. So bleibt zum Schluss die Ungewissheit als das einzig Gewisse. Wieder einmal ist es die Unabschließbarkeit des Schreibens, das Erzählen an der Grenze des Erzählbaren, das hier von Beckett in literarisch anspruchsvoller Weise vorgeführt wird.
 
M. Kempe

Universal-Lexikon. 2012.

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